Die Entdeckung

Foto: Tobias Melle

Die Wiederentdeckung der Werke des Komponisten Otto Manasse ist einer Verkettung glücklicher Zufälle zu verdanken. Im Besitz unserer Familie befindet sich seit vielen Jahren die Büste eines Mannes , dessen eingravierter Name den Besitzern jahrzehntelang unbekannt war: Otto Manasse.

Die Büste stammt aus dem Erbe meines Urgroßvaters Wolfgang Ruoff (1882 – 1964), der als Pianist und Professor an der Akademie der Tonkunst in München mit Manasse befreundet war. Im ebenfalls vererbten und auf mehrere Familien verteilten Notenfundus Wolfgang Ruoffs, fanden sich einzelne Notenhefte, die ebenfalls mit den Initialen „O.M.“ bezeichnet waren: Otto Manasse.

Den Stein ins Rollen brachte eine Aktion des Künstlers Wolfgang Kastner, der auf die Treppenstufen der Hochschule für Musik und Theater in München, ein Bau aus der Zeit des Nationalsozialismus, 100 Namen jüdischer Musiker schrieb: darunter : Otto Manasse.

Die Süddeutsche Zeitung veröffentlichte ein Foto im Feuilleton.

Meine Tante entdeckte in einem verstaubten Notenstapel eine Komposition Manasses: „Introduktion – Variation und Fuge über den Choral Jerusalem, du hochgebaute Stadt“, und dazu eine Orgelphantasie über diesen Choral. Diese Komposition wurde dann in der Reihe „unerhörte Klänge“ von dem Organisten Michael Grill zur Aufführung gebracht. Von diesem Konzert begeistert und hellhörig geworden, fand ich in einem alten Schuber einige Lieder und Musikstücke, die meinem Urgroßvater persönlich gewidmet waren. Die „Lieder aus dem Toskanischen Liederbuch“.

Daraus entstand die Idee zu einem Konzert, das nur Manasse gewidmet sein sollte.

Dieses fand am 19.2.2011 in der Seidlvilla in München Schwabing, gegenüber von Manasses früherer Wohnung in der Nicolaistraße und in der Erlöserkirche statt und die Werke von Otto Manasse wurden vom Publikum begeistert aufgenommen.

 

Das Wenige was wir über den Komponisten wissen, ist hier nach einem Vortrag von Michael Grill zusammengetragen:

Otto Manasse

Otto David Manasse wurde am 10. Juni 1861 in Stettin/Pommern geboren. Seine Eltern waren Lewy Manasse (1818 – 1875), - nicht wie bisher angegeben Otto Manasse -, ein Kaufmann in Stettin, und Henriette Manasse, geborene Marcuson. Nach dem frühen Tod des Vaters wurde dessen Bruder Aaron der Vormund des jungen Manasse. Die Schulzeit verbrachte er auf dem Marienstiftsgymnasium in Stettin. 1881 wurde Manasse an der Universität in Zürich immatrikuliert, er studierte Chemie.

Zu einem unbekannten Zeitpunkt wechselte er an die Universität Berlin, wo er am 28. Juli 1886 promovierte. Der Titel seiner Doktorarbeit lautete: „Die Vanadate der Erdalkalien“.

Am 4. Mai 1884 war Manasse bereits von Berlin nach München gezogen. In München studierte er an der Ludwig-Maximilian-Universität. Die Belegblätter sind erst ab 1890/91 erhalten. Demnach belegte er ein organisch – chemisches Praktikum bei Adolf von Baeyer und „Hydroaromatische Verbindungen“ bei Richard Willstätter. Man kann annehmen, dass Manasse nach Abschluss seines Studiums noch weiter mit von Baeyer zusammengearbeitet hat, möglicherweise als Assistent, vielleicht später auch als gleichberechtigter Mitarbeiter. Denn Manasse meldete ein Patent an: am 11. August 1896 in Deutschland, am 14. August 1896 in England und am 6. September 1898 in den Vereinigten Staaten. Manasse ließ sich „Oxycamphor und sein Herstellungsverfahren“ patentieren. Die Forschungen dazu führte er im Auftrag der Farbwerke, der späteren Höchst AG durch.

In diesem Patent hat Manasse Ergebnisse weiterentwickelt, die von Baeyer bereits 1872 beschrieben hatte. Später erkannte dann Leo H. Baekeland den industriellen Nutzen dieses Patents und entwickelte 1907 den nach ihm benannten ersten industriellen Kunststoff „Bakelit“. Vermutlich hat dieses Patent dazu geführt, dass Otto David Manasse finanziell so gestellt war, dass er sich seiner Liebe zur Musik widmen konnte.

Zwischen 1884 und 1904 sind uns sechs verschiedene Adressen in München bekannt (laut Universitätsarchiv), an denen Manasse gewohnt hat (Gabelsbergerstraße, Ludwigstraße, Bahnhofsplatz, Dachauer Straße, Hessstraße und Von-der-Tann-Straße). Er bemühte sich also, relativ zentral – zwischen Bahnhof und Universität – zu wohnen.

Am 14. Oktober 1904 zog er in die Nikolaistraße 5. Diese Wohnung lag nördlich der Universität in Schwabing und gehört zum Gemeindegebiet der evangelisch-lutherischen Erlöserkirche. Ab 16. Mai 1933 war Manasse dort als Mitglied angemeldet.

Otto Manasse war unverheiratet und hatte keine Kinder.

Otto Manasse hatte auch ein Pseudonym: Tomas E. Aston. In großen lexikalischen Werken ist er jedoch mit keinem dieser beiden Namen zu finden. Seine Konfession wird von den Quellen mit jüdisch und evangelisch – lutherisch angegeben, ohne dass der genaue Zeitpunkt des Übertritts zu bestimmen wäre. In dem „Lexikon der Juden in der Musik“, das ab 1934 in Deutschland von der Reichsmusikkammer im Auftrag der NSDAP herausgegeben wurde, standen beide Namen.

Seit 1939 war der Druck der Nationalsozialisten auf Otto David Manasse stärker geworden. (Der zweite Vorname David, im Pass ab 1939 auch „Israel“, wurde ihm von den Nationalsozialisten zur Kenntlichmachung seiner jüdischen Herkunft gegeben.) Man versuchte, ihn aus seiner Wohnung zu drängen. Paul Graener, der Vorsitzende der Reichsfachschaft Komponisten in der Reichsmusikkammer, versuchte, sich für Manasse einzusetzen, dass er in seiner Wohnung bleiben könnte. Er bat Hans Hinkel, den Generalsekretär der Reichskulturkammer um Hilfe. Dieser wandte sich an den Münchner Oberbürgermeister Fiehler. Offensichtlich war dies aber vergeblich. Am 5. August 1939 musste Manasse in die Tengstraße 31 ziehen, am 01.10. 1939 in die Wintersteinstraße, ab 31.12.1941 kam er in das Internierungslager Clemens-August-Straße, am 24.02.1942 in das Barackenlager Knorrstraße, das in den Akten als „Judenlager“ bezeichnet wird. In den Akten des Einwohnermeldeamtes ist für den 23. Juni 1942 angegeben: „Mit unbekanntem Ziel abgewandert“.

Am 24. Juni 1942 wurde der über 80-jährige Otto David Manasse mit 49 Mitgefangenen unter der Transportnummer II,8 nach Theresienstadt deportiert. Er starb dort am 27. November 1942. Als Todesursache wurde „Darmkatarrh“ angegeben.

Über Otto Manasses musikalische Ausbildung in seiner Kindheit und Studienzeit liegen uns leider keinerlei Informationen vor. Man kann nur vermuten, dass er schon als Kind in einer Kaufmannsfamilie die Möglichkeit zu Musikunterricht oder zumindest zum Besuch von Konzerten hatte. Es fehlen uns aber im Moment alle Informationen über den Beginn seiner Tätigkeit als Komponist oder über früh entstandene Werke.

1901 kam Max Reger nach München und wirkte hier bis 1907 unter anderem als Lehrer an der Akademie der Tonkunst. Wir haben mehrere Belege dafür, dass Otto Manasse Kompositionsunterricht bei Reger erhielt, allerdings nicht an der Akademie, sondern als Privatschüler. So schreibt Otto Keller in seiner „Geschichte der Musik“: „Endlich sei noch in wenigen Worten des Otto Manasse gedacht, der bei Reger nur zu seiner eigenen Freude studierte und eigentlich den Beruf eines Chemikers ausübt. Aber er hat schon so prachtvolle und wertvolle Klavier- und Orgelkompositionen geschrieben, dass er sie der Allgemeinheit nicht so ängstlich vorenthalten sollte.“ Ich zitiere dies aus der 5. Auflage aus dem Jahr 1923. Otto Kellers Musikgeschichte erschien 1893 zum ersten Mal. Es wäre interessant, in welcher Auflage Manasse erstmals erwähnt wird. Das andere Zeugnis seiner Schülerschaft bei Max Reger stammt von diesem selbst. In einem Brief vom 28. Mai 1906 empfahl Reger dem Verleger Otto Forberg zwei Klavierwerke von Otto Manasse, leider ohne die mitgeschickten Noten im Brief näher zu bezeichnen: „Beide junge Musiker“ – der andere war José Lasalle – „sind Schüler von mir und kann ich Ihnen diese Compositionen aufs Beste zum Verlage empfehlen! Sie werden damit etwas Gutes bekommen!“ Wenn man davon ausgeht, dass Reger keinen Unterricht für Anfänger erteilt hat, kann man folgern, dass Manasse bereits vor 1901 Kompositionen verfasst hat.

Werke

Folgende musikalischen Werke sind derzeit noch vorhanden:

In der Bayerischen Staatsbibliothek befinden sich

  1. Introduktion, Variationen und Fuge über den Choral „Jerusalem, du hochgebaute Stadt“ für großes Orchester und Orgel, orchestriert von Clemens v. Franckenstein (1924)
  2. Suite für Violoncello und Klavier und
  3. Zwei Fassungen der „Metamorphosen“ über B A C H für Klavier

Als Manuskripte sind in München vor einigen Jahren aufgetaucht: Fantasie über den Choral „Jerusalem, du hochgebaute Stadt“ für Orgel und „10 Lieder aus dem Toskanischen Volksliederbuch“ für hohe Singstimme und Klavier nach Gedichten übersetzt von Edgar Kurz.

Die Metamorphosen für Klavier wurden zwischen 1912 und 1920 bei dem Berliner Verlag Ries und Erler gedruckt, 1924/25 auch in der „neuen Fassung“, ebenso die „Jerusalem“-Komposition. Leider verlor der Verlag in den letzten Kriegstagen 1945 bei einem Bombenangriff den größten Teil seines Archivs, so dass keinerlei Unterlagen mehr über den Komponisten oder weiteres Material vorhanden sind.

Die beiden Manuskripte, die ich in München von der Enkelin von Manasses Freund erhielt, wurden in einem „Büro für musikalische Arbeiten“ ins Reine geschrieben und mit dem Copyright 1930 versehen. Dies sagt meines Erachtens aber nichts über die wirkliche Entstehungszeit der Werke aus. Auf der Titelseite der Lieder steht zudem eine handschriftliche Widmung für Manasses Freund, den Pianisten Wolfgang Ruoff, der Professor an der Münchner Akademie der Tonkunst war und von 1882 bis 1964 lebte.

Die Texte zu den Liedern für hohe Singstimme und Klavier stammen von dem in Florenz lebenden Arzt Edgar Kurz, der sie aus dem Italienischen übersetzte und 1904 herausgab.

Von keinem Werk Manasses gibt es schon eine musikwissenschaftliche Analyse. Bei dem gegenwärtigen Kenntnisstand ist auch eine genau Datierung der Kompositionen schwierig. Anhand des Briefes von Max Reger und des kurzen Abschnittes aus Otto Kellers „Musikgeschichte“ darf man aber davon ausgehen, dass Manasse noch weitere Kompositionen verfasst hat, die ihm die Anerkennung des Lehrers und des kulturellen Umfeldes zumindest in Deutschland gebracht haben. Durch die erzwungenen, sicher auch kurzfristig anberaumten Umzüge Manasses in München ab 1939 dürfte es sehr schwierig gewesen sein, jeweils seinen gesamten Hausrat und alle musikalisch relevanten Dinge mitzunehmen. Deshalb vertraute er seinem Freund Ruoff, der im Hildebrand-Haus (heute Monacensia) wohnte, die genannten Kompositionen an. Wir hoffen, auf die gleiche Weise vielleicht noch weitere Werke zu erhalten, zum Beispiel von Nachfahren von Personen, die seine Stücke besessen haben.

Außer der Freundschaft zu Wolfgang Ruoff sind jedoch nur wenige Kontakte des offensichtlich sehr zurückhaltenden Otto Manasse bekannt. Der Bildhauer Bernhard Bleeker (1881-1968), der seit 1899 in München lebte und 1913 Mitbegründer der „Münchner Neuen Secession“ war, fertigte von Manasse eine Büste an. Später wurde Bleeker jedoch Mitglied der NSDAP und porträtierte sogar Hitler und Göring.

Alles, was bisher über das Leben Otto Manasses zu erfahren war, ist hier zusammengetragen. Ich betrachte dies nicht als Bericht über die Ernte einer musikgeschichtlichen Forschungsarbeit, sondern eher als ein Auslegen von Fährten. So war ich auch 2016 zu einem Konzert in Stettin, wo ich das Orgelwerk Manasses im Dom aufführen und auch im Staatsarchiv nach Unterlagen forschen konnte. Ebenso durfte ich einer Einladung zu einem Vortrag nach Paris folgen, um dort im Rahmen eines Festivals („Voix étouffée“ – „Die erstickte Stimme“) über den Komponisten zu referieren. Dies sind Versuche, in fast allerletzter Stunde noch das Vergessen eines Künstlers zu verhindern, den die Nationalsozialisten auslöschen wollten. Jeder, der einen weiteren Baustein zu dem noch recht fragmentarischen Bild des Lebens und Werkes Otto Manasses beisteuern kann, ist herzlich eingeladen, dies zu tun. Eines Tages werden wir den Namen des Lehrers kennen, der ihm als Kind die Liebe zur Musik eingepflanzt hat und werden vielleicht ein vollständiges Werkverzeichnis haben. Dann haben wir wieder einen Erfolg auf dem Weg des Erinnerns errungen.

Michael Grill

Ich danke Michael Grill, Michaela Pühn und Klaus Kämper, die sich mit viel Zeit und Geduld in die Kompositionen eingearbeitet haben ohne zu wissen, wohin das Abenteuer führt. Ich freue mich, dass Manasse durch diese CD jetzt einem breiteren Publikum zugänglich wird und hoffe, dass seine Musik auch in die Konzertsäle und Kirchen zurückkehrt.

Anja Maria Luidl